Urteil gegen Hells Angels in Berlin

„Was ist denn das?“ Recep O. vom Berliner Hells Angels MC Berlin City brüllt, springt auf und schlägt mit voller Wucht und beiden Händen gegen das Panzerglas, das die Anklagebank vom Rest des Saales abtrennt. Nicht nur seine Verteidigerin vor ihm zuckt zusammen.

Recep O. wirkt für einen Moment tatsächlich überrascht, dass die 15. Große Strafkammer des Landgericht Berlin ihn an diesem Tag wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.

Der 30-Jährige guckt seine Verteidiger fassungslos an.
Nur Kadir Padir, der Berliner Hells Angels Präsident, gibt sich demonstrativ unbeeindruckt. Wegen Anstiftung zum Mord an Tahir Özbek am 10. Januar 2014 in einem Wettcafé in Berlin-Reinickendorf verurteilt das Gericht auch ihn zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Kadir Padir lächelt.

Wenig später wird Kadir Padir vom Vorsitzenden Richter Thomas Groß zu hören bekommen, dass er den „Eindruck der eigenen Unbesiegbarkeit“ vermittele. „Er glaubte, auch mit schwersten Gewalttaten davonzukommen.“ Ein Irrtum, wie das Gericht dem 35-Jährigen an diesem Tag deutlich macht.

Zwölf Jahre für den Kronzeugen
Sieben weitere Angeklagte werden wegen gemeinschaftlichen Mordes an dem 26-jährigen Özbek schuldig gesprochen. Darunter auch Kassra Z., der Hells Angels Kronzeuge. Wegen seiner frühen und umfassenden Kooperation mit den Ermittlungsbehörden bekommt Kassra Z., genannt „der Perser“, allerdings keine lebenslange Haftstrafe, sondern nur zwölf Jahre.

Dem Vorsitzenden Richter Thomas Groß ist die Anspannung anzusehen. Dennoch verkündet er nach fast fünf Jahren Verhandlungsdauer unbeirrt das Urteil. Er lässt sich weder von wütenden Zwischenrufen noch vom Dauergemurmel und der zur Schau getragenen Respektlosigkeit einiger Angeklagter aus der Ruhe bringen. Er liest einfach weiter, immer weiter. Fast drei Stunden lang. Ein Zuhörer schleudert ihm ein „Lügner“ entgegen, ein Angeklagter unterbricht ihn rüde, weil er dringend zur Toilette müsse. Groß behält die Contenance. Und er redet nicht drumherum.

Provoziert, verhöhnt, herausgefordert
Tahir Özbek, das Mordopfer, nennt der Richter einen Kriminellen und Intensivtäter. Wie Hells Angels MC Berlin City Boss Kadir Padir sei auch Özbek ein „dissoziales Alphatier“ gewesen. „Ein Leben-und-leben-lassen der beiden im selben Kiez war auf Dauer nicht vorstellbar.“ Es habe Gerüchte gegeben, dass Özbek in den Drogenhandel einsteigen und mit einer verfeindeten Rockergruppe kooperieren wollte. Zudem habe Özbek die Hells Angels um Padir ständig provoziert, verhöhnt, herausgefordert. „Kadir Padir und Tahir Özbek konnten sich nicht ausstehen“, sagt der Richter. Aus Sicht der Hells Angels habe Özbek ihr Ansehen und ihre Geschäfte gefährdet. „Tahir Özbek war einer, der hatte Eier in der Hose, der gab nie nach“, sagt der Richter.

Irgendwann habe Kadir Padir, „die absolute Zentralgestalt“ der Hells Angels Berlin, beschlossen, Tahir Özbek zu töten.

Die Tat ausgeführt habe Recep O., der laut Gericht als „klassischer Klassenclown um Anerkennung und Aufmerksamkeit buhlte“. Recep O. selbst hat gestanden, Tahir Özbek erschossen zu haben. Er stellt es als eine Art Notwehr dar. Er habe Angst gehabt, sein Opfer zöge eine Waffe. Das Gericht glaubt ihm kein Wort. Er sei schon mit ausgestrecktem Arm und Waffe in der Hand auf Özbek zugelaufen und habe sofort geschossen. Sechs Kugeln trafen Özbek tödlich. „Özbek zog keine Waffe und machte auch keine missverständlichen Bewegungen.“ Er fühlte sich in seinem Stammcafé sicher.

Die Waffe hatte er in seiner Jacke gelassen, die er ebenso wenig trug wie seine Schusssichere Weste. Es sei nicht um Einschüchterung gegangen, sondern ein „mörderisches Überfallkommando“ gewesen, heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen. „Schäm dich!“, schreit Padir den Richter an.

„Keine Überraschung, dass Özbek erschossen wurde“
Tahir Özbek wusste um die Gefahr. Nach Überzeugung des Gerichts hatte er im Oktober 2013 vor einer Disko den Bruder eines der Hells Angels Angeklagten mit einem Messer schwer verletzt.

Seither sei es den Hells Angels um Padir um Rache gegangen. Özbek legte sich eine Schutzweste und eine Waffe zu – und provozierte weiter. „Es war im Grunde im Berliner Kiez keine Überraschung, dass Tahir Özbek erschossen wurde“, sagt der Richter.

Wie genau Padir den Mordauftrag formuliert hat, sei nicht bekannt. Ganz sicher sei aber, dass es nicht nur darum gehen sollte, Präsenz zu zeigen, also um eine Machtdemonstration. Es gibt ein Video der Tat, aufgenommen von Überwachungskameras. Es zeigt 13 Rocker, die im Gänsemarsch in den Laden gehen. Das Gericht sagt, kein Einziger habe durch die Schüsse überrascht gewirkt. „Es ist sicher auszuschließen, dass nicht alle von dem Plan wussten.“

Nur dem Angeklagten Yakub S. sei „nicht ausreichend sicher nachzuweisen“, dass er zusammen mit Kadir Padir zu dem Mord angestiftet habe. Obwohl er laut Gericht „ein treffliches Motiv“ hatte. Tahir Özbek hatte seinen Bruder damals vor der Disko schwer verletzt. Yakub S. wird lediglich wegen unerlaubten Waffenbesitzes zu einem Jahr und zehn Monaten verurteilt. Ins Gefängnis muss er deswegen nicht mehr, durch die Untersuchungshaft gilt seine Strafe bereits als verbüßt. Das Gericht spricht ihm zudem eine Haftentschädigung zu. Yakub S. triumphiert und teilt es dem Gericht sogleich mit. „Ich nehme Ihre Entschuldigung an!“, ruft er dem Richter Zu.

„Polizeiliches Fehlverhalten“ beim LKA
Ganz am Ende bekommt auch das Landeskriminalamt Berlin deutliche Worte zu hören. Das Gericht sieht klare Hinweise auf massives Polizeiversagen. So klare Hinweise, dass die Richter den Angeklagten dafür jeweils zwei Jahre Freiheitsstrafe ersparen wollen.

Denn nach Überzeugung der Kammer wusste das LKA Berlin, dass Tahir Özbek in Lebensgefahr schwebte. Und es unternahm trotzdem nichts zu seinem Schutz. Gegen drei Beamte läuft ein Ermittlungsverfahren wegen Totschlags durch Unterlassen.

Der Richter formuliert es deutlich: „Kräfte des LKA unterließen zwingende Maßnahmen, die die Tat hätten verhindern können.“ Er sagt: „Der Staat konnte die Tat voraussehen und trägt Verantwortung für sie.“ Das Gericht gewährt Kadir Padir, Recep O. und den anderen wegen „polizeilichen

Fehlverhaltens“ einen Abschlag von je zwei Jahren. Vollstreckungslösung nennt sich das.
Eine lebenslange Freiheitsstrafe ist zeitlich unbegrenzt. Nach 15 Jahren kann erstmals eine Entlassung aus der Haft auf Bewährung geprüft werden. Durch den Rabatt von zwei Jahren wäre dies schon nach 13 Jahren möglich. Und die Strafe für Kassra Z. betrüge nach Rechtskraft des Urteils nicht zwölf, sondern zehn Jahre.

Aus Juristenkreisen ist zu hören, dass es eine Rarität wäre, ließe der Bundesgerichtshof eine solche Vollstreckungslösung bei Verurteilung wegen Mordes zu. Und die Staatsanwaltschaft Berlin teilt noch am Urteilstag mit, sie werde prüfen, ob sie wegen dieser Vollstreckungslösung in Revision gehen wird.


Germany - Spiegel.

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