Cengiz44TV vs. Miami Gianni

 Lange sah es so aus, als hätte sich die Rockerszene einen eigenen, reichweitenstarken YouTube-Kanal aufbauen können. Er sollte das Milieu ins rechte Licht rücken. Doch dann kam alles ganz anders.

Das, was hier gerade passiert, sagt er, das sei ihm egal, wirklich ganz egal, denn das, was hier gerade passiert, das habe ja alles nur bedingt mit ihm zu tun. Auf der anderen Seite, sagt der Mann, der sich im Internet Cengiz44TV nennt, sei das, was hier passiert, aber auch wirklich „Banane“, denn es würde die völlig falschen Leute treffen, nämlich „die armen Lieferdienste“, die „mit der Sache“ gar nichts zu tun hätten, um dann endlich zu erklären, was es denn eigentlich ist, was hier gerade passiert.

Bei Cengiz44TV wurde Pizza bestellt. Nicht nur einmal, sondern mehrfach. Ständig eigentlich, denn seitdem seine Adresse im Internet geleakt wurde, würden sich irgendwelche Menschen aus dem Internet den Spaß machen und wieder und wieder irgendwelche Lieferdienste vor seine Haustür schicken, die er dann wiederum abweisen müsse. Ärgerlich. Nicht für ihn. Koste ihn schließlich nur eine Minute, aber der arme Pizzalieferdienst, sagt er, der habe die ganzen Pizzen dann umsonst gemacht.

Da sitzt er nun, der Mann, der sich im Internet Cengiz44TV nennt. Groß und übergewichtig, schaut er mit gesenktem Kopf an der schlecht eingestellten Kamera vorbei und scheint die Welt nicht mehr so richtig zu verstehen.

Auf seine Hand hat er sich vor einiger Zeit noch „1%er“ tätowiert, der internationale Code, der Zugehörige des Rockermilieus ausweist, die für sich selbst in Anspruch nehmen, rücksichts- und kompromisslos leben zu wollen, ready für jede noch so harte Straftat und doch verwundert darüber, dass es weitergeht mit dem Mobbing und der Pizza. Er habe sogar schon bei Lieferando angerufen, sagt Cengiz44TV, um das irgendwie zu klären, aber es höre einfach nicht auf. Die Sache mit der Pizza ist nur die nächste Eskalation im Leben des Deniz Ceylan, wie Cengiz44 bürgerlich heißt. Doch der Reihe nach.

Deniz Ceylan, Anfang 30, Ex United Tribuns Bochum Mitglied und Ex Bandidos Prospect betreibt seit etwa einem Jahr einen YouTube-Kanal, für welchen er Videos zu den unterschiedlichsten Themen produziert. Mal berichtet er als YouTuber über YouTuber, die mit anderen YouTubern Streit haben, mal zeigt er improvisierte Kochvideos oder die Fortschritte seiner immer mal wieder unterbrochenen Diät, zuletzt aber nahm sein Kanal rasant an Fahrt auf, als er verstärkt auch über das Milieu berichtete, als dessen Teil er sich begreift.

United Tribuns

Ceylan ist aktiv in der deutschen Rockerszene, und vor einigen Wochen gelang ihm ein kleiner Coup, da bekam er ein großes Interview mit Yildiray Kaymaz alias Ali Osman. Ali Osman galt in der Szene einmal als eine Art lebende Legende, seit er vor einem Jahrzehnt den deutschen Ableger des niederländischen Motorradklubs Satudarah MC in Duisburg gründete und als erste Amtshandlung den Hells Angels den Krieg erklärte.

Das war zum einen völlig größenwahnsinnig, hatte zum anderen aber auch einen David-gegen-Goliath-Glamour, der in einer Szene, die sich für große Symbolik noch immer gut begeistern lässt, Anklang und Respekt fand.

Allerdings ist es heute nicht mehr ganz so gut um den Ruf von Ali Osman bestellt. Immerhin legte er vor Gericht ein umfassendes Geständnis gegen seine einstigen Mitstreiter ab, was nicht nur dafür sorgte, dass diese zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden, sondern auch dafür, dass Osman seine Glaubwürdigkeit in der Szene nahezu komplett verspielte.

Nun also das Interview. Hier, bei Cengiz44TV, so wusste Ali Osman, konnte er ohne kritische Nachfragen erklären, dass ein Geständnis ja nicht gleich ein Geständnis sei, und überhaupt, er wäre doch kein schlechter Kerl, sondern ein echter Rocker, noch immer gut vernetzt, noch immer im Game, das Bild müsse doch bitte einmal geradegerückt werden.

Cengiz44TV war mit seinen 30.000 Abonnenten dafür die perfekte Plattform. Denn das Verhältnis der Rockerszene zur medialen Öffentlichkeit war schon immer ambivalent. Auf der einen Seite suchen Rocker eine gewisse Medienpräsenz, um Einfluss auf ihr Bild in der Öffentlichkeit zu nehmen, zum anderen verdammten sie die Medien aber auch dafür, wenn das öffentliche Bild nicht der eigenen Wahrnehmung entspricht.

Kluge Rocker sind auch Geschäftsmänner, und gute Geschäftsmänner wissen, dass das richtige Image für Nachwuchs in der Szene sorgt. Man vermittelt gern das Bild des Bad Boys, der sich am Rande der Legalität bewegt, gesellschaftliche Konventionen bricht, aber dennoch einem klar definierten Ehrenkodex treu bleibt, der einem nicht immer ganz kohärenten Moralverständnis folgt, aber dennoch einen gewissen Reiz auf gewisse Menschen ausübt.

Mehr Nachwuchs in der Szene sorgt wiederum für stabile Finanzen, denn entgegen dem weitverbreiteten Irrglauben, dass Rocker ihr Geld nur auf kriminelle Weise verdienen, finanzieren sich die einzelnen Chapter viel mehr über Mitgliedsbeiträge, den Verkauf von Kutten und teuren Motorrädern, die für eine Klubzugehörigkeit obligatorisch sind. Entsprechend wichtig ist es, das öffentliche Bild möglichst nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. Bisher nutzte man in Abhängigkeitsverhältnissen stehende Rapper, um das gewünschte Image einer breiten Masse gegenüber zu transportieren. Einen eigenen Szene-YouTuber konnte man hingegen noch nicht aufbauen.

Dann kam Cengiz44TV und das Interview mit Ali Osman. Und hier beginnt der Teil, der zu der geleakten Adresse und den Pizzalieferungen vor die Haustür von Deniz Ceylan führte. Denn in dem Interview sprachen Ali Osman und Cengiz44 auch von einem alten Duisburger Satudarah MC Mitglied, das ebenfalls mit den Strafverfolgungsbehörden kooperierte und eine gewisse Popularität genießt.

Miami Gianni, bürgerlich Jan Sander, war in den 2000er Jahren eine große Nummer im Hamburger Rotlichtmilieu, bekam dort Ärger mit den Hells Angels Hamburg Harbor City, wurde angeschossen, schwor Rache, ließ sich laut eigener Aussage für das LKA NRW zuerst beim türkischen Gremium MC Bosporus West und dann bei Ali Osmans Satudarah Duisburg einschleusen und arbeitete von dort den Behörden zu.

Gremium Bosporus

Jan Sander alias Miami Gianni landete trotzdem für einige Jahre im Knast (JVA Werl), betreibt aber, seit er wieder auf freiem Fuß ist, eine Aufklärungskampagne gegen Rocker und hat es ziemlich gut geschafft, sich als bekanntester Aussteiger des Milieus in Szene zu setzen. Er ist gern gesehener Gast in Talkshows und bekommt in naher Zukunft sein eigenes TV-Format. Zudem hat er einen YouTube-Kanal, in dem er Einblicke in sein altes Leben im Milieu gibt.

Sander ist nun also so etwas wie das selbst gewählte Feindbild noch aktiver Rocker, „ein V-Mann, ein Zinker, ein Piç“, wie Ceylan sagt, was eine nicht ganz wörtlich zu übersetzende türkische Beleidigung ist, die als besonders ehrenrührig gilt. Es ist in Rockerkreisen schon eine Art Volkssport, über Sander herzuziehen, doch dieses Mal wollte Sander das Ganze nicht so auf sich sitzen lassen – und nutzte fortan seine eigene Reichweite, um gegen Ceylan zurückzuschießen.

Video folgte auf Video, Instagram-Ansage auf Instagram-Ansage, und so entstand das, was man einen klassischen Beef nennt, einen vornehmlich über Social-Media-Kanäle verbal ausgetragenen Konflikt zweier Kontrahenten, der für die Zuschauer meist einen hohen Entertainmentfaktor bietet.

Einmal, da hatte Ceylan bereits einen Beef mit den Hells Angels Duisburg und als Ceylan dann mit seiner Harley nach Duisburg Stadt fuhr, in der er den Beef mit den Rockern hatte, da haben ihn die Anhänger der Rocker gefunden und verfolgt und an einer Ampel schließlich gestellt und angespuckt – und das Video, wie er gestellt und angespuckt wird, landete im Internet, was wiederum zur Folge hatte, dass Ceylan im Hintergrund ein Treffen mit Selo Atik von den Türkischen Hells Angels Duisburg organisieren musste, die in der Stadt, in der er angespuckt wurde, etwas zu sagen haben, damit sie die Sache klären konnten.

Hells Angels

Den Beef mit Miami Gianni kriegt Ceylan allerdings nicht so schnell vom Tisch, denn wie es scheint, hat sich Sander festgebissen, er lädt in regelmäßigen Abständen und immer kürzerer Taktung Videos gegen Cengiz44 hoch, in denen er ihn mit seinen eigenen öffentlichen Widersprüchen konfrontiert. „Eigentlich“, sagt Jan Sander im Gespräch, „ist das gar nicht mein Niveau. Auf der anderen Seite sind wir auf YouTube. Und YouTube ist Trash. Leute lieben Unterhaltung.“

Außerdem, sagt Sander, sei das eben auch seine Form, sich zu wehren. „Jahrelang hat man sich in der Rockerszene über mich das Maul zerrissen. Das war auch eine Form von Mobbing. Jetzt sollen diese Leute mal sehen, dass man auch zurückgeschlagen werden kann, wenn man ständig austeilt.“

Er will mit seinen Videos nicht nur Cengiz, sondern die ganze Szene vorführen, was ihm gerade ziemlich gut gelingt, denn die Szene scheint ein wenig nervös zu werden. Mehr und mehr Rockergrößen wollen mit Cengiz, dem YouTube-Rocker, ganz offensichtlich nicht mehr in Verbindung gebracht werden, gemeinsame Fotos müssen wieder gelöscht werden, auch Ali Osman distanziert sich mittlerweile. Unter seinen eigenen Videos wird Ceylan öffentlich zur Witzfigur erklärt.

Und seit Sander nun auch indirekt seine Adresse geleakt hat, machen Internet-Trolle Ceylan das Leben noch ein wenig schwerer, indem sie ihm Pizza und andere Dinge bestellen. Im Dezember schließlich wollen die beiden Kontrahenten ihre Probleme endgültig klären. Dann planen sie, gegeneinander in den Boxring zu steigen. Bis dahin wird sich die Rockerszene aber noch einige Monate ärgern, dass ihr mühsam aufgebautes Image ausgerechnet von einem Szene-YouTuber ins Lächerliche gezogen wird.

Germany - MRB.

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